WARUM KÄMPFST DU?
Oromis’
Weckkugel brummte wie eine riesige Hornisse und plärrte Eragon in
die Ohren, bis er die kleine Apparatur packte und den Mechanismus
wieder aufzog.
Seine geprellten Knie schimmerten bläulich
und die Knochen taten ihm weh, sowohl vom letzten Anfall als auch
vom Rimgar. Sein Rachen war so wund, dass er bloß noch krächzen
konnte. Den schlimmsten Schmerz aber bereitete ihm die düstere
Ahnung, dass Durzas Fluch ihn nicht das letzte Mal heimgesucht
hatte. Die Vorstellung machte ihn rasend und raubte ihm
Lebensfreude und Willenskraft.
Der letzte Anfall war
schon so lange her, sagte er zu Saphira. Ich hatte gehofft, ich wäre vielleicht wieder geheilt.
Aber es war wohl nur reines Glück, dass ich so lange verschont
geblieben bin.
Saphira schob den Kopf vor und tätschelte
ihn mit der Schnauze am Arm. Du bist
nicht allein, Kleiner. Ich tue alles, was ich kann, um dir zu
helfen. Er lächelte schwach. Sie leckte ihm das Gesicht
und fügte an: Du musst dich fertig
machen!
Ich weiß. Er
starrte auf den Boden, wollte nicht aufstehen, aber dann schleppte
er sich doch zur Waschkammer, wo er rasch badete und sich mit
magischer Hilfe rasierte.
Er trocknete sich gerade ab, als er im Geist
eine Berührung spürte. Ohne lange nachzudenken, legte Eragon einen
Schutzwall um sein Bewusstsein und konzentrierte sich auf seinen
dicken Zeh.
Bewundernswert, sagte Oromis, aber unnötig. Bring dein Schwert mit! Dann zog
sich der Geist seines Lehrmeisters wieder zurück.
Eragon atmete zitternd aus. Ich muss besser aufpassen, erklärte er
Saphira. Einem Feind wäre ich auf Gedeih
und Verderb ausgeliefert gewesen.
Ich bin ja auch noch
da.
Nachdem er sein morgendliches Waschritual
hinter sich gebracht hatte, hakte Eragon die Stoffmembran aus und
stieg auf Saphiras Rücken. Das Schwert lag in seiner
Armbeuge.
Saphira flog los und nahm Kurs auf die
Felsen von Tel’naeír. Aus dieser Höhe konnten sie die Schäden
sehen, die der nächtliche Sturm angerichtet hatte. In Ellesméra
selbst waren zwar keine Bäume entwurzelt worden, aber weiter
entfernt, wo der Elfenzauber schwächer wurde, waren zahlreiche
Kiefern umgestürzt. Der noch immer starke Wind rieb die kreuz und
quer verschränkten Äste und Baumstämme aneinander, sodass man sie
selbst aus der Luft knarren und ächzen hörte.
Während sie flogen, tauschten Eragon und
Saphira ihr am Vortag erlerntes Wissen aus. Er erzählte ihr, was er
über die Ameisen gelernt hatte, und sie informierte ihn über
Fallwinde und andere gefährliche Wetterbedingungen und wie man
ihnen auswich.
So konnten sie alle Fragen beantworten, die
Oromis und Glaedr ihnen gleich nach der Landung stellten.
»Sehr gut, Eragon-Vodhr.«
Ja. Gut gemacht,
Bjartskular, lobte Glaedr Saphira.
Wie beim letzten Mal flog Saphira mit Glaedr
fort, während Eragon auf dem Felsen zurückblieb. Diesmal jedoch
achteten er und Saphira darauf, dass sie in Verbindung blieben, um
dem Unterricht des anderen folgen zu können.
»Du klingst heiser, Eragon«, bemerkte
Oromis, nachdem die Drachen fortgeflogen waren. »Bist du
krank?«
»Ich hatte in der Nacht wieder einen
Anfall.«
»Oh. Das tut mir Leid.« Er hob einen Finger.
»Warte hier!«
Eragon schaute Oromis nach, der in seiner
Hütte verschwand und kurz darauf zurückkam. Mit seinem
Bronzeschwert in der Hand und der im Wind flatternden schlohweißen
Haarmähne wirkte er wild und kriegerisch. »Heute«, sagte er,
»lassen wir den Rimgar aus und kreuzen stattdessen unsere Klingen.
Stumpfe deine Schneide, so wie dein erster Lehrmeister es dir
beigebracht hat.«
Eragon hätte sich am liebsten geweigert,
aber er wollte weder sein Versprechen brechen noch ausgerechnet vor
Oromis wie ein zaudernder Weichling dastehen. Das bedeutet es eben, ein Drachenreiter zu
sein, sagte er sich.
Er ging in sich und tastete im Geist nach
dem Kern, der ihn mit dem wilden Fluss der Magie verband, tauchte
in sie ein und ließ sich von ihrer Kraft
durchströmen. »Gëuloth du Knífr«,
sagte er. Ein blinkender blauer Stern flammte zwischen seinem
Daumen und Zeigefinger auf und sprang zwischen ihnen hin und her,
als Eragon über Zar’rocs tödliche Schneide strich.
Bereits beim ersten Aufeinanderprallen ihrer
Schwerter wusste Eragon, dass er Oromis genauso unterlegen war wie
Durza und Arya. Für einen Menschen war Eragon ein hervorragender
Schwertkämpfer, doch mit Kriegern, die Magie im Blut hatten, konnte
er nicht mithalten. Sein Arm war zu schwach, seine Reflexe zu
langsam. Trotzdem legte er sich ins Zeug und ging dabei an die
Grenzen seiner Fähigkeiten, wenn es auch letztlich vergebens
war.
Oromis prüfte ihn auf jede nur erdenkliche
Weise, zwang ihn, sein ganzes Repertoire an Ausweichschritten,
Stößen, Kontern und Finten abzurufen. Es war alles umsonst; er
konnte Oromis’ Deckung nicht ein einziges Mal überwinden. Am Ende
stellte Eragon unvermittelt seinen Kampfstil um, was normalerweise
selbst den erfahrensten Gegner überraschte, doch es trug ihm nur
einen blauen Fleck am Oberschenkel ein.
»Du musst die Beine schneller bewegen!«,
rief Oromis. »Wer wie ein Turm dasteht, fällt in der Schlacht. Nur
wer sich biegt wie Schilfrohr, triumphiert!«
Der Elf war ein exzellenter Schwertkämpfer,
eine perfekte Mischung aus eiserner Disziplin und ungezügelter
Kraft. Er war geschmeidig wie eine Katze, stieß zu wie eine
Schlange und sprang umher wie ein flinkes Wiesel.
Sie hatten etwa zwanzig Minuten gekämpft,
als der Elf plötzlich schwankte und das Gesicht verzog. Eragon
erkannte die Symptome von Oromis’ geheimnisvoller Krankheit und
stieß zu. Das war zwar unfair, aber Eragon war so frustriert, dass
er jede Lücke ausnutzen wollte, um Oromis wenigstens einmal zu
treffen, wie unredlich es auch sein mochte.
Doch Zar’roc erreichte sein Ziel nicht. Als
Eragon sich in den Stoß hineindrehte, zerrte er sich den
Rücken.
Der Schmerz überfiel ihn ohne
Vorwarnung.
Das Letzte, was er hörte, war Saphiras
Schrei.
Eragon!
Trotz der Wucht des Anfalls musste Eragon
die Tortur bei vollem Bewusstsein durchstehen. Seine Umgebung nahm
er allerdings nicht wahr, nur das in ihm lodernde Feuer, das ihm
jede Sekunde wie eine Ewigkeit erscheinen ließ. Am schlimmsten war,
dass er nichts gegen die Schmerzen tun konnte, sondern warten
musste …... und warten...
Eragon lag keuchend in einer kalten
Schlammpfütze. Er blinzelte, als das Bild vor seinen Augen wieder
scharf wurde und er Oromis neben sich auf einem Hocker sitzen sah.
Eragon erhob sich auf die Knie und betrachtete sein neues Wams mit
einer Mischung aus Bedauern und Ekel. Der edle rostbraune Stoff war
schlammbesudelt und auch sein Haar war voller Matsch.
Er spürte Saphira, die besorgt darauf
wartete, dass er sie bemerkte. Wie soll
es bloß weitergehen mit dir?, fragte sie. Dein Rücken wird dich noch umbringen!
Ihr vorwurfsvoller Ton war für Eragon kaum
zu ertragen. Saphira hatte noch nie an seinem Siegeswillen
gezweifelt, weder in Dras-Leona noch in Gil’ead oder in Farthen
Dûr. Sie hatte immer daran geglaubt, dass er am Ende die Oberhand
behalten würde. Mit ihrer unerschütterlichen Zuversicht hatte sie
ihm immer Mut gemacht. Ohne dieses Urvertrauen bekam er wahrhaftig
Angst.
Konzentriere du dich
lieber auf deinen Unterricht, erwiderte er gereizt.
Ich glaube, ich sollte
mich lieber auf dich konzentrieren.
Lass mich in
Ruhe! Er fauchte sie an wie ein verletztes Tier, das
seine Wunden allein und im Dunkeln lecken wollte. Sie verstummte
und hielt die Verbindung gerade so weit aufrecht, dass er noch
undeutlich wahrnahm, wie Glaedr sie über das Feuerkraut aufklärte,
das sie zur Unterstützung ihrer Verdauung fressen sollte.
Eragon schüttelte sich den Matsch aus dem
Haar und spuckte aus. Sein Speichel war blutig. »Ich habe mir auf
die Zunge gebissen.«
Oromis nickte, als wäre dies zu erwarten
gewesen. »Soll ich die Wunde heilen?«
»Nein.«
»Wie du meinst. Wasch dich und setze dich
anschließend in die Baumgrotte! Lausche dort den Gedanken des
Waldes. Höre ihnen gut zu, und wenn du nichts mehr vernimmst, komm
zurück und berichte mir, was du gelernt hast.«
»Ja, Meister.«
Als Eragon sich auf den Baumstumpf hockte,
merkte er schnell, dass seine aufgewühlten Gefühle ihn daran
hinderten, die nötige Konzentration aufzubringen, um seine Gedanken
zu öffnen und die ihn umgebenden Lebewesen wahrzunehmen. Dazu hatte
er ohnehin keine Lust.
Trotzdem beruhigte ihn die friedvolle
Umgebung und ließ seinen Ärger verfliegen. Das machte ihn zwar
nicht unbedingt glücklich, aber wenigstens gelang es ihm dadurch,
sich trotz aller Frustration mit seinem Schicksal
abzufinden. So ist nun mal mein Leben und
ich sollte es akzeptieren. Es dürfte sich in absehbarer Zukunft
wohl kaum verbessern.
Nach einer Viertelstunde funktionierten
seine Sinne wieder so scharf wie gewohnt, sodass er fortfahren
konnte, die Kolonie von roten Ameisen zu studieren, die er am
Vortag entdeckt hatte. Gleichzeitig versuchte er, die anderen
Lebewesen um sich herum wahrzunehmen, so wie Oromis es ihm
aufgetragen hatte.
Dabei war Eragon allerdings nur mäßiger
Erfolg beschieden. Wenn er sich entspannte und sich seiner Umgebung
öffnete, stürmten tausende Bilder auf ihn ein, die sich in einer
rasenden Abfolge von Farben, Tönen, Gefühlen und Gerüchen
überschlugen. Die Menge an Information war schier überwältigend.
Aus reiner Gewohnheit pflückte sein Geist dieses oder jenes Subjekt
aus dem Strom heraus und ignorierte den ganzen Rest, bis er seinen
Fehler bemerkte und wieder versuchte, sich der Gesamtheit seiner
Umgebung zu widmen. Dieser Kreislauf wiederholte sich alle paar
Sekunden.
Trotzdem konnte er sein Verständnis von der
Welt der Ameisen verbessern. Den ersten Hinweis auf ihre
unterschiedlichen Geschlechter erhielt er, als er mitbekam, dass
die große Ameise im Herzen der unterirdischen Höhle Eier legte,
etwa eines pro Minute. Das machte sie wohl zu einem Weibchen. Als
er danach eine Gruppe roter Ameisen den Stamm eines Rosenstrauchs
hinaufbegleitete, erlebte er eine anschauliche Demonstration,
welche Art von Feinden die kleinen Krabbeltiere hatten: Irgendein
Etwas schoss unter einem Blatt hervor und tötete eine der Ameisen,
mit der Eragon verbunden war. Er konnte nicht erkennen, was für ein
Geschöpf es war, denn die Ameisen sahen nur Fragmente davon und
verließen sich ohnehin eher auf ihren Geruchssinn als auf ihre
Sehkraft. Wären es Menschen gewesen, hätte er gesagt, dass sie von
einem Furcht einflößenden Riesenmonster angegriffen wurden, dessen
Kiefer so mächtig waren wie die gespitzten Fallgatter in Teirm und
das sich pfeilschnell bewegte.
Die Ameisen umringten das Riesenmonster wie
Stallburschen, die ein durchgegangenes Pferd einfangen wollten. Sie
griffen es furchtlos an, stürzten sich auf seine haarigen Beine und
wichen jedes Mal zurück, wenn seine eisernen Zangen nach ihnen
schnappten. Mehr und mehr Ameisen warfen sich in das Kampfgetümmel.
Mit vereinten Kräften versuchten sie, den Eindringling zu
überwältigen, und ließen auch dann nicht locker, als zwei ihrer
Brüder getötet wurden und mehrere andere von dem Rosenstamm
herunterfielen.
Es war ein verzweifelter Kampf, bei dem
keine der beiden Parteien gewillt war nachzugeben. Es gab nur den
Sieg oder einen grausamen Tod. Mit atemloser Spannung verfolgte
Eragon die hinund herwogende Schlacht, beeindruckt vom Wagemut der
Ameisen, die selbst mit Verletzungen weiterkämpften, die einen
Menschen längst außer Gefecht gesetzt hätten. Ihr Heldenmut war so
bemerkenswert, dass die Barden darüber ganze Epen hätten dichten
können.
Eragon war vollkommen in den Kampf vertieft.
Als die Ameisen schließlich siegten, stieß er einen freudigen
Jubelschrei aus, der die Vögel von ihren Hochsitzen auf den Bäumen
aufschreckte.
Eragon zog seinen Geist zurück und ging aus
reiner Neugier zu dem Rosenstrauch, um sich das tote Monster
anzusehen. Es war eine ganz gewöhnliche braune Spinne, die von den
Ameisen nun als nahrhafte Beute in ihre Höhle geschleppt
wurde.
Erstaunlich!
Er schickte sich an zu gehen, doch dann
wurde ihm bewusst, dass er schon wieder vergessen hatte, die
Myriaden anderer Insekten und Tiere im Wald zu beobachten. Er
schloss die Augen, wirbelte rasch durch den Geist mehrerer Dutzend
Lebewesen und versuchte, sich so viele Einzelheiten wie möglich
einzuprägen. Das war zwar ein armseliger Ersatz für eine
ausdauernde, genaue Beobachtung, aber er hatte Hunger und außerdem
war die Unterrichtsstunde längst vorbei.
Als Eragon in Oromis’ Hütte zurückkehrte,
fragte ihn der Elf: »Wie ist es gelaufen?«
»Meister, ich könnte zwanzig Jahre lang in
den Wald hineinhorchen und wüsste selbst dann nicht, was dort alles
vorgeht.«
Oromis hob eine Braue. »Du machst
Fortschritte.« Nachdem Eragon ihm seine Beobachtungen geschildert
hatte, meinte der Elf jedoch: »Das reicht leider noch nicht. Du
musst härter an dir arbeiten, Eragon. Ich weiß, dass du es kannst.
Du bist intelligent und geduldig und besitzt das Potenzial zu einem
großartigen Drachenreiter. So schwierig es auch sein mag, du musst
lernen, deine Sorgen zu vergessen und dich allein auf deine
jeweilige Aufgabe zu konzentrieren. Finde den Frieden in dir und
lass dein Wirken von dort fließen.«
»Ich versuche es ja!«
»Mag sein, aber das genügt eben nicht.« Er
machte eine gedankenvolle Pause. »Möglicherweise wäre es hilfreich,
wenn du einen Mitschüler hättest, an dem du dich messen kannst.
Dann erfahren wir vielleicht, was wirklich in dir steckt... Ich
werde darüber nachdenken.«
Oromis holte einen frisch gebackenen
Brotlaib und ein Holzschälchen mit Haselnussmus, das die Elfen
anstelle von Butter verwendeten, aus dem Vorratsschrank und füllte
zwei Schalen mit dem Gemüseeintopf, der in der Ecke über der
Feuerstelle vor sich hin köchelte.
Eragon starrte missmutig auf die Suppe. Er
hatte die Nase voll von der Elfenkost und sehnte sich danach, die
Zähne mal wieder in einen deftigen Rehbraten oder eine saftige
Hirschkeule schlagen zu können. Das Kochgemüse war ihm mehr und
mehr zuwider. »Meister?«, fragte er, um auf andere Gedanken zu
kommen. »Warum verlangt Ihr von mir zu meditieren? Soll ich nur das
Verhalten der Tiere und Insekten verstehen oder steckt noch mehr
dahinter?«
»Fällt dir kein anderer Grund ein?« Oromis
seufzte, als Eragon den Kopf schüttelte. »Es ist immer dasselbe mit
meinen neuen Schülern, vor allem mit den Menschen. Der Verstand ist
der letzte Muskel, den sie ausbilden und gebrauchen. Und sie achten
ihn am geringsten. Fragt man sie nach einem Schwertkampf, können
sie einem jede kleine Finte von einem Duell schildern, das schon
einen Monat zurückliegt. Bittet man sie jedoch, ein Problem zu
lösen oder einen vernünftigen Satz zu formulieren... In dem Fall
kann man von Glück reden, wenn man mehr als bloß einen
verständnislosen Blick erntet. Du bist noch unerfahren in der Welt
der Gramarye - so wird Magie
richtig genannt -, aber du musst allmählich anfangen, ihre volle
Bedeutung zu erfassen.«
»Wie soll ich das tun?«
»Stell dir vor, du wärst Galbatorix und
besäßest seine gewaltigen Kräfte. Die Varden hätten deine
Urgal-Armee mithilfe eines konkurrierenden Drachenreiters
vernichtet, der, wie du wüsstest, von deinem gefährlichsten Feind
ausgebildet wurde, nämlich von Brom. Du wüsstest auch, dass deine
Feinde sich in Surda für eine mögliche Invasion sammeln. Dies alles
vorausgesetzt - was wäre da der einfachste Weg, die Bedrohungen
auszuschalten, ohne selbst in den Kampf ziehen zu müssen?«
Eragon rührte lustlos in seinem Eintopf
herum, während er nachdachte. »Ich glaube«, antwortete er zögernd,
»das Einfachste wäre, eine Gruppe von Magiern auszubilden, die
nicht einmal besonders mächtig sein müssten, sie zu zwingen, in der
alten Sprache einen Treueschwur zu leisten, und sie dann nach Surda
einzuschmuggeln. Dort könnten sie den Varden im Verborgenen
schaden, ihre Brunnen vergiften oder Nasuada, Orrin und andere
Schlüsselfiguren des Widerstandes ausschalten.«
»Und warum hat Galbatorix das noch nicht
getan?«
»Weil Surda bisher von geringem Interesse
für ihn war. Und weil die Varden jahrzehntelang in Farthen Dûr
gelebt haben. Dort konnten sie den Geist jedes Neuankömmlings
überprüfen und hätten sofort gemerkt, wenn er sie hätte täuschen
wollen. In Surda können sie das nicht mehr, weil es eine offene
Stadt ist und dort zu viele Menschen leben.«
»Zu denselben Schlussfolgerungen bin auch
ich gelangt«, erklärte Oromis. »Solange Galbatorix Urû’baen nicht
verlässt, dürfte die größte Gefahr, der du auf dem Feldzug der
Varden begegnen wirst, von anderen Magiern ausgehen. Wir beide
wissen, wie schwer es ist, sich gegen Magie zu schützen, vor allem
wenn der Gegner in der alten Sprache geschworen hat, einen um jeden
Preis zu töten. Statt erst zu versuchen, deinen Geist zu erobern,
wird ein solcher Feind einfach einen Zauber wirken, der dich auf
der Stelle umbringt. Allerdings besitzt du immer noch die
Möglichkeit, unmittelbar bevor du stirbst, zurückzuschlagen. Du
kannst jedoch deinen Mörder nicht töten, wenn du nicht weißt, wo
und wer er ist.«
»Also muss man sich nicht immer die Mühe
machen, zuerst den Geist seines Gegners zu kontrollieren?«
»Nicht immer, aber man sollte das Risiko so
gering wie möglich halten.« Oromis machte eine Pause, um ein
bisschen von dem Eintopf zu essen. »Kommen wir zum Kern des
Problems. Wie willst du dich gegen einen anonymen Feind zur Wehr
setzen, der deinen geistigen Schutzwall mühelos überwinden und dich
mit einem einzigen gemurmelten Wort niederstrecken kann?«
»Ich wüsste nicht, wie das gehen soll. Es
sei denn...« Eragon zögerte und lächelte plötzlich. »Es sei denn,
ich würde das Bewusstsein aller Menschen um mich herum beobachten.
Dann könnte ich spüren, ob einer von ihnen mir Böses will.«
Oromis freute sich sichtlich über die
Antwort. »Richtig, Eragon-Finiarel. Und das beantwortet auch deine
Frage. Die Meditation schult dein Bewusstsein, Schwachstellen im
geistigen Schutzwall deiner Feinde zu finden und sie auszunutzen,
wie klein sie auch sein mögen.«
»Aber würde es ein anderer Zauberkundiger
nicht bemerken, wenn ich seinen Geist abtaste?«
»Ja, das würde er, aber da Magier Angst
davor haben, schotten sie im Gegensatz zu normalen Menschen ihren
Geist vor dir ab - und genau daran kannst du sie erkennen.«
»Ist es nicht gefährlich, sein Bewusstsein
ungeschützt zu lassen? Wenn man mit Magie angegriffen wird, kann
man leicht überwältigt werden.«
»Es ist ungefährlicher, als blind durch die
Welt zu gehen.«
Eragon nickte und klopfte mit seinem Löffel
rhythmisch an die Schale. »Es kommt mir trotzdem irgendwie...
falsch vor.«
»Wie bitte? Erkläre dich!«
»Was ist mit der Privatsphäre der Menschen?
Brom hat mich gelehrt, niemals in den Geist anderer Leute
einzudringen, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Mir behagt die
Vorstellung nicht, die Geheimnisse anderer Menschen
auszuspionieren…« Er legte den Kopf schräg. »Warum hat Brom mir
nichts davon erzählt, wenn es so wichtig ist? Warum hat er mich
nicht selbst darin ausgebildet?«
»Brom hat dich das gelehrt, was unter den
gegebenen Umständen angemessen war«, erklärte Oromis. »In den Geist
anderer Menschen einzutauchen, kann charakterschwache und
machthungrige Personen süchtig machen. Diese Fähigkeit wurde
künftigen Drachenreitern erst dann beigebracht, wenn wir davon
überzeugt waren, dass sie die Reife besaßen, der Versuchung zu
widerstehen.
Es handelt sich dabei tatsächlich um eine
Verletzung der Privatsphäre, und du wirst vieles erfahren, was du
niemals wissen wolltest. Doch es dient nur deinem und dem Wohl der
Varden. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass es dir vor allem
helfen wird, zu verstehen, was die Menschen antreibt. Dieses
Verständnis erzeugt Nachsicht und Mitgefühl, selbst für den
elendsten Bettler.«
Sie aßen eine Weile schweigend weiter.
Schließlich fragte Oromis: »Kannst du mir das wichtigste geistige
Werkzeug nennen, das eine Person besitzt?«
Es war eine ernste Frage, und Eragon
überlegte lange, bevor er antwortete: »Entschlossenheit.«
Oromis teilte mit seinen langen, bleichen
Fingern den Brotlaib. »Mir ist klar, warum du das sagst. Deine
Entschlossenheit ist dir bei deinen Abenteuern stets vonnutzen
gewesen. Die Antwort ist trotzdem falsch. Ich meinte das Werkzeug,
mit dem man Strategien zur Lösung von Problemen entwickelt.
Entschlossenheit ist unter Narren und Trunkenbolden genauso
verbreitet wie unter den brillantesten Denkern. Also ist es nicht
das, wonach wir suchen.«
Diesmal ging Eragon die Frage wie ein Rätsel
an, zählte die Anzahl der Wörter, murmelte sie vor sich hin, um
festzustellen, ob sie sich reimten, und klopfte sie nach
versteckten Bedeutungen ab. Das Problem war nur, dass er im
Rätselraten nicht besonders gut war und in Carvahalls jährlichem
Rätselwettbewerb immer einen der hinteren Plätze belegt hatte. Er
dachte einfach zu geradlinig für solcherart Spielereien. Es war
wohl ein Vermächtnis von Garrows nüchterner Erziehung.
»Weisheit«, erklärte er schließlich.
»Weisheit ist das wichtigste Werkzeug des Geistes, das eine Person
besitzen kann.«
»Eine sehr schöne Antwort, aber auch sie ist
falsch. Die richtige Antwort lautet: Logik. Oder besser: die
Fähigkeit, analytisch zu denken. Richtig angewendet, kann die Logik
selbst den Mangel an Weisheit ausgleichen, die man erst durch viel
Lebenserfahrung erlangt.«
Eragon runzelte die Stirn. »Schon, aber ist
es nicht wichtiger, ein gutes Herz zu besitzen als einen
analytischen Verstand? Logik allein könnte einen zu
Schlussfolgerungen führen, die moralisch verwerflich sind. Ist man
dagegen anständig und ehrlich, tut man nichts Schlechtes.«
Oromis lächelte dünn. »Du bringst da etwas
durcheinander. Ich wollte nur wissen, was das nützlichste
Geisteswerkzeug ist, über das eine Person verfügen kann, ungeachtet
der Frage, ob die Person gut oder böse ist. Ich stimme dir zu, dass
Tugendhaftigkeit sehr wichtig ist. Müsste ich mich jedoch
entscheiden, ob ich einem Mann einen guten Charakter schenken oder
ihn lehren sollte, klar zu denken, würde ich ihm lieber Letzteres
beibringen. Zu viele Probleme in der Welt werden von Männern mit
edler Gesinnung und umwölktem Verstand verursacht.
Die Geschichte bietet uns viele Beispiele
von Menschen, die überzeugt waren, das Richtige zu tun, und in
diesem Irrglauben schreckliche Verbrechen begangen haben. Vergiss
nicht, Eragon, niemand hält sich selbst für einen Bösewicht, und
nur wenige treffen Entscheidungen, die sie für falsch halten.
Jemandem gefällt vielleicht im Nachhinein nicht, wie er sich
entschieden hat. Aber in der Regel wird er sein Verhalten
rechtfertigen, weil er glaubt, dass seine Entscheidung zum
betreffenden Zeitpunkt die bestmögliche Option gewesen ist.
Ein anständiger Mensch zu sein, garantiert
noch lange nicht, dass man das Richtige tut. Das bringt uns wieder
zu dem einzigen Schutz zurück, über den wir gegen Betrüger,
Hetzredner und den Wahn der Massen verfügen und der uns am
sichersten durch unser schicksalsgebeuteltes Dasein führt: klares,
vernünftiges Denken. Die Logik wird dich niemals im Stich lassen,
es sei denn, du bist dir der Konsequenzen deiner Handlungen nicht
bewusst oder ignorierst sie absichtlich.«
»Wenn Elfen so logisch denken«, meinte
Eragon, »müsstet Ihr Euch ja in allen Fragen des Lebens einig
sein.«
»Wohl kaum«, widersprach Oromis. »Wie jedes
Volk halten auch wir an unzähligen Glaubenssätzen fest, was zur
Folge hat, dass wir häufig verschiedener Meinung sind und über
Dinge streiten, über die man eigentlich kein Wort verlieren müsste.
Ich wollte zwar, es wäre anders, aber leider haben nicht alle Elfen
ihren Verstand angemessen entwickelt.«
»Und wie wollt Ihr mir beibringen,
logisch... analytisch zu
denken?«
Oromis lächelte ihn breit an. »Mit der
ältesten und einfachsten aller Methoden: mit Streitgesprächen. Ich
werde dir eine Frage stellen und du antwortest und verteidigst
deinen Standpunkt.« Er wartete, während Eragon sich Nachschlag vom
Eintopf holte. »Warum kämpfst du eigentlich gegen das
Imperium?«
Der plötzliche Themenwechsel traf Eragon
völlig unvorbereitet. Er hatte das Gefühl, dass Oromis schon die
ganze Zeit auf dieses Thema zugesteuert hatte. »Um den Menschen zu
helfen, die unter Galbatorix’ Tyrannei leiden, und vielleicht auch
ein bisschen, um mich an ihm zu rächen.«
»Dann kämpfst du also aus humanitären
Gründen?«
»Was meint Ihr damit?«
»Du kämpfst, um den Menschen zu helfen,
denen Galbatorix Leid zufügt, und gleichzeitig willst du
verhindern, dass er weitere Verbrechen verübt.«
»Genau«, sagte Eragon.
»Dann beantworte folgende Frage, mein junger
Freund: Wird dein Kampf gegen Galbatorix nicht viel mehr
Leid verursachen als
verhindern? Die meisten Menschen im Imperium leben ein normales,
fleißiges Leben, das vom Wahnsinn ihres Königs nicht beeinflusst
wird. Mit welcher Begründung kannst du billigend in Kauf nehmen -
und vermutlich wird es dazu kommen, wenn du gegen Galbatorix in die
Schlacht ziehst -, in ihr Land einzufallen, ihre Häuser zu
zerstören und ihre Töchter und Söhne zu töten?«
Eragon starrte seinen Meister fassungslos
an. Er konnte nicht glauben, dass Oromis ihn so etwas fragte.
Galbatorix war doch böse! Trotzdem erstaunte es ihn, dass sich die
Frage gar nicht so leicht beantworten ließ. Er wusste zwar, dass er
Recht hatte, aber wie konnte er es begründen? »Findet Ihr denn
nicht, dass man Galbatorix stürzen sollte?«
»Das steht hier nicht zur Debatte.«
»Aber Ihr wisst doch, dass ich Recht habe!«,
beharrte Eragon. »Denkt doch nur daran, was er den Drachenreitern
angetan hat!«
Oromis tunkte sein Brot in den Eintopf, aß
schweigend weiter und ließ Eragon vor sich hin brüten. Als der Elf
fertig war, faltete er die Hände im Schoß. »Habe ich dich aus der
Fassung gebracht?«, fragte er.
»Ja, Meister, das habt Ihr.«
»Verstehe. Nun, dann denke weiter über die
Frage nach, bis du eine Lösung gefunden hast. Ich erwarte eine
überzeugende Antwort.«